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Non-Target-Screening (NTS): Ein Meilenstein in der Umweltanalytik

Eine neue Analysentechnik zur integralen Erfassung von unbekannten Spurenstoffen in Gewässern


Von Dr. Mario Schaffer, Dr. Tobias Minuth und Waldemar Bülow

Im Gegensatz zu den derzeit eingesetzten Analysenverfahren, bei denen gezielt nach bestimmten Stoffen gesucht wird, ermöglicht es das Non-Target-Screening auch bisher nicht betrachtete oder unbekannte organische Spurenstoffe in Gewässerproben zu identifizieren und die Messdaten für spätere Auswertungen in einem digitalen Probenarchiv zu speichern. Im NLWKN soll bald mit eigenen Messungen begonnen werden. In einem vorab initiierten Projekt konnten bereits zahlreiche neue Stoffe in niedersächsischen Gewässern nachgewiesen werden.
*leer Bildrechte: (Quelle: NLWKN – T. Minuth/M. Schaffer)
Schematische Darstellung der Non-Target-Analytik – Chromatogramm und Masse-Retentionszeit-Diagramm

Die Überwachung unserer Gewässer auf potentielle Schadstoffe steht bisher vor einem Dilemma: Mit konventionellen Analyseverfahren können nur die Substanzen in einem Gewässer gefunden werden, die in Messprogrammen enthalten sind und auf die die Analysengeräte entsprechend eingestellt sind. Durch limitierte Stofflisten kann die Belastungssituation in einem Gewässer oftmals nur sehr unzureichend beschrieben werden. Es bleibt in den meisten Fällen unklar, ob beziehungsweise welche weiteren gefährlichen Schadstoffe neben den regelmäßig untersuchten Substanzen in den Gewässern vorkommen und dort möglicherweise eine negative Wirkung entfalten. Im Rahmen der NLWKN-Untersuchungen zur Bewertung eines Gewässerzustands gemäß Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) werden beispielsweise, unter hohem technischem und finanziellem Aufwand, die Oberflächengewässer regelmäßig auf rund 150 bis 200 potentiell gefährliche Einzelstoffe untersucht. Durch weitere Untersuchungen, unter anderem im Abwasser, ist jedoch bekannt, dass mehrere tausend Spurenstoffe in Oberflächengewässern auftreten können.

Durch die rasante technische Entwicklung der letzten Jahre wird es mit Hilfe einer neuen instrumentellen Analysetechnik, der hochauflösenden Massenspektrometrie (HRMS) möglich, in Kombination mit weltweit geführten und stetig wachsenden Stoffdatenbanken eine Vielzahl von vorab unbekannten beziehungsweise nicht einkalibrierten Spurenstoffen aufzuspüren. Diese neue Analysenmethode wird allgemein als Non-Target-Screening (NTS) oder beim Abgleich mit Stoffdatenbanken als Suspect-Target-Screening (STS) bezeichnet. Zukünftig wird damit eine nahezu integrale Erfassung von bekannten und unbekannten, gewässerbelastenden Spurenstoffen möglich werden.

Bislang wird in der regulären Gewässerüberwachung mit „konventionellen“ Massenspektrometern Target-Analytik (TS) betrieben: Dabei können vergleichsweise wenige bekannte und einkalibrierte Stoffe - mit zum Teil sehr hoher Empfindlichkeit - nachgewiesen und quantifiziert werden. Mit hochauflösenden Massenspektrometern werden nahezu alle im Gewässer vorhandenen Stoffe gescannt und deren exakte Molekülmassen als sogenannte Features (exakte Massen) erfasst. Die Identifizierung vieler Stoffe gelingt durch den Abgleich der Features mit bekannten Massen aus Stoffdatenbanken. Die verfügbaren Stoffdatenbanken enthalten bereits mehrere tausend Stoffe und wachsen beständig durch die Identifizierung bisher unbekannter Features in Umweltproben, die mit Hilfe von Referenzsubstanzen verifiziert werden können.

Zusätzlich lassen sich die gescannten Wasserproben zunächst unausgewertet in einer „digitalen Umweltprobendatenbank“ archivieren. Damit wird eine nachträgliche Auswertung der Messungen möglich, zum Beispiel durch den erneuten Abgleich „alter“ Messdaten mit neuen oder aktualisierten Datenbanken. Mit anderen Worten: Selbst nach mehreren Jahren, lassen sich die gescannten Proben retrospektiv auf vermutete oder neu entdeckte Umweltschadstoffe auswerten. So wird es beispielsweise „auf Knopfdruck“ möglich, zeitliche Verläufe und Trends von vorher nicht bekannten oder bisher nicht betrachteten Stoffen zu ermitteln.

Das Non-Target-Screening hat sich in den letzten Jahren zu einer leistungsstarken und zukunftsträchtigen Methode in der Umwelt- und Wasseranalytik entwickelt und wird bereits von diversen Bundes- und Landesbehörden für die Gewässer- und Schadstoffunfallüberwachung eingesetzt (z. B. LfU-Bayern, LANUV-NRW, UBA/BfG). Zukünftig ist davon auszugehen, dass NTS die bisherigen Analysetechniken zum Teil ersetzten oder sogar ablösen wird.

Seit 2021 beschäftigt sich auch die Organische Spurenanalytik des NLWKN-Labors in Hildesheim mit dem Aufbau einer NTS-Analytik. Es wird angestrebt, im Jahr 2023 mit eigenen Messungen zu beginnen. Darüber hinaus nimmt der NLWKN an den Begleitkreisen des REFOPLAN-Vorhabens „Online Portal - Non-Target-Screening für die Umweltüberwachung der Zukunft“ teil. Dieses Projekt wird in nationalem Rahmen von der Bundesanstalt für Gewässerkunde im Auftrag des Umweltbundesamts durchgeführt. Daraus resultiert ein reger fachlicher Austausch zu dem vielversprechenden - aber auch sehr komplexen - neuen Messsystem. Übergeordnetes Projektziel ist die Einrichtung eines bundesweiten digitalen Probenarchivs, welches unter anderem durch die Bundesländer mit Messdaten gespeist wird.

Um das Potential dieser neuen Untersuchungstechnik zu eruieren beziehungsweise aufzuzeigen, wurden landesweit durch den NLWKN erste orientierende Untersuchungen an niedersächsischen Überblicks- beziehungsweise WRRL-Messstellen veranlasst. Die im Jahr 2020 an insgesamt 45 Messstellen entnommenen Gewässerproben wurden geteilt und parallel von zwei Auftragslaboren mit unterschiedlicher instrumenteller Analysentechnik und Vergleichsdatenbanken untersucht, welche in der Summe über 10.000 Stoffe beinhalteten.

In der Gesamtschau konnten auf diese Weise über 350 verschiedene Stoffe in den Wasserproben identifiziert werden, davon bis zu etwa 90 Verbindungen gleichzeitig in einzelnen Proben (z. B. aus der Fuhse bei Wathlingen und Peine). Neben einer Vielzahl an natürlich vorkommenden Substanzen wurden erwartungsgemäß auch viele anthropogene Spurenstoffe identifiziert, die vor allem über Kläranlagen in die Gewässer eingetragen werden - unter anderem aus den Stoffgruppen der Pharmaka, Pestizide, Kosmetika, UV-Filter, Korrosionsschutzmittel, Flammschutzmittel, Tenside, Weichmacher und künstlichen Süßstoffe. Darüber hinaus wurden zahlreiche Abbauprodukte (Metaboliten) identifiziert. Die meisten dieser Spurenstoffe sind (noch) nicht in den Stofflisten der regulären Monitoringprogramme enthalten – auch nicht für die Bewertung des Gewässerzustands nach WRRL. Die am häufigsten gefundenen Stoffe nicht natürlichen Ursprungs sind in Tabelle 1 aufgeführt. Die wenigsten Stoffnachweise wurden erwartungsgemäß in den Proben aus dem Steinhuder Meer (See) und dem Hasselbach nahe Holzminden (naturnahes Fließgewässer) festgestellt. Die gewonnenen Daten können beispielsweise für eine integrale Beurteilung des Gewässerzustands, die Analyse von Eintragspfaden oder der Optimierung des zukünftigen - auf festen Stofflisten basierenden - Target-Monitorings werden.

Auszug aus den Ergebnissen des ersten orientierenden landesweiten Non-Target-/Suspect-Target-Screenings (Positivbefunde anthropogener Spurenstoffe in mehr als 50% der Proben)

(Hinweis: Da die Stoffvorschläge nicht durch Referenzstandards verifiziert wurden, sind trotz insgesamt plausibler Befundlage, vereinzelte, falsch positive Stoffidentifizierungen nicht gänzlich auszuschließen.)

Stoffname

Klassifizierung

Anteil

4-Hydroxybenzophenon

UV-Filter (Kosmetika / Industrie)

100%

Lamotrigin

Pharmaka (Antikonvulsivum)

96%

Metoprolol

Pharmaka (Antihypertonikum)

96%

4-Formylaminoantipyrin

Metabolit Aminophenazon (Pharmaka)

96%

Metoprololsäure

Metabolit Metoprolol/Atenolol (Pharmaka)

93%

Gabapentin

Pharmaka (Antikonvulsivum)

91%

Gabapentin-lactam

Metabolit Gabapentin (Pharmaka)

91%

Candesartan

Pharmaka (Antihypertonikum)

91%

1H-Benzotriazol

Frost-/Korrosionsschutzmittel

89%

Tramadol

Pharmaka (Analgetikum)

87%

Carbamazepin

Pharmaka (Antikonvulsivum)

84%

Amisulprid

Pharmaka (Neuroleptikum)

82%

Valsartansäure

Metabolit Sartane (Pharmaka)

82%

Phenazon /Antipyrin

Pharmaka (Analgetikum, Antipyretikum)

80%

Tolyltriazol

Frost-/Korrosionsschutzmittel

76%

Sucralose

Künstlicher Süßstoff

76%

Lidocain

Pharmaka (Lokalanästhetikum)

73%

Bisoprolol

Pharmaka (Antihypertonikum)

71%

Fexofenadin

Pharmaka (Antihistaminikum)

69%

Amidotrizoesäure

Pharmaka (Röntgenkontrastmittel)

69%

3,5-Di-tert-butyl-4-hydroxybenzoesäure

Metabolit BHT (Antioxidans)

67%

Metolachlor-Sulfonsäure CGA 354743

Metabolit Metolachlor (Pflanzenschutzmittel)

62%

Valsartan

Pharmaka (Antihypertonikum)

60%

4-Undecylbenzolsulfonsäure

Surfactant / Tensid

60%

Sitagliptin

Pharmaka (Antidiabetikum)

58%

Flecainid

Pharmaka (Antiarrhytmikum)

56%

Diethyltoluamid (DEET)

Insektenschutzmittel/Repellent

56%

Bentazon

Pflanzenschutzmittel (Herbizid)

56%

Dimethachlor-Säure CGA 369873

Metabolit Dimethachlor (Pflanzenschutzmittel)

56%

Tapentadol

Pharmaka (Analgetikum)

53%

S-Metolachlor NOA 413173

Metabolit Metolachlor (Pflanzenschutzmittel)

53%

Tiaprid

Pharmaka (Neuroleptikum)

53%

4-Acetamidoantipyrin

Metabolit Metamizol (Pharmaka)

51%

Chloridazon-Methyldesphenyl (B1)

Metabolit Chloridazon (Pflanzenschutzmittel)

51%

*leer   Bildrechte: NLWKN – T. Minuth
Foto des Analysengeräts – Flüssigkeitschromatographie (links) gekoppelt an ein hochauflösendes Flugzeitmassenspektrometer (rechts)
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